Pyranja Kolumne
Warten
Mai 07
Fast
überall wo man auf etwas warten muss, gibt es Bonbons umsonst. Ganz
egal ob Hotel, Autovermietung, Apotheke, Bar, Restaurant oder
Latte-Machiato-Tempel – pausenlos werden zur Besänftigung der an
Zeitmangel erkrankten Zivilisation kleine, süße, klebrige Visitenkarten
aus raffinieren Zuckerkristallen in den verlockensten Farben des
Regenbogens bereitgestellt um die potentielle Kundschaft zu ködern, zu
beruhigen und von den tickenden Zeigern der Uhr abzulenken. Wann immer
sich eine solche Schale voller cellophanierter Glückgefühle in mein
Blickfeld zoomt, startet ein inzwischen völlig automatisiertes
Verhaltensmuster: so landen von einer Handvoll Bonbons maximal zwei im
Mund und den Rest der Beute verfrachtet man möglichst unauffällig und
vor allem ganz nebenbei in einer besonders eng am Körper liegenden
Hosen- oder Jackentasche, um auch hier noch einen personalisierten
Beitrag zur Formvollendung zu leisten. Tage – okay, manchmal auch
Monate später – werden sie dann aus ihrem Baumwollgefängnis entlassen
und landen fast schon traditionell in einer kleinen, runden Holzdose.
Als diese neulich mit vollem Karacho von der Kommode direkt vor meine
Füße kullerte, fand ich mich überrascht inmitten mindestens einer Tonne
mehr oder weniger hübsch verpackter Zuckerbömbchen wieder, von denen
mir jedes seine eigene kleine Geschichte zuflüsterte. Zum Beispiel von
dem Tag an dem mich mein deprimiert-zerknitterter Bankberater vergebens
von Sinn und Notwendigkeit einer absolut nutzlosen Versicherung
überzeugen will und dann den persönlich-enttäuschten Superhero spielt,
weil ich nicht augenblicklich meine Unterschrift unter circa
zehntausend Belege und Verträge setze. Um mich zu rächen, habe ich die
komplette Drops-Schale in meinen Rucksack gekippt. Seitdem hat er mich
nie wieder angerufen. So sitze ich nun also ohne Connection ins
Bankerbusiness vor einem Haufen Glucose in kreischend, buntem Papier
und die Erinnerungen gleiten von ganz allein zurück in die noch
brauchbaren Regionen meiner Hirnrinde. Die in winzige Plastiktütchen
verpackten JellyBeans in Pastelltönen mit kackbraunen Punkten versetzen
mich sofort wieder in die wackelige Glamourwelt eines früheren Jobs bei
einer Modemesse. Auch dort wurde man mit Süßigkeiten in allen
Trendfarben eingedeckt und selbst die magersüchtigen Striche vom
Laufsteg stopften sich mit sweeten Sünden ihre Taschen voll. Weniger
Variationen hingegen gibt es bei den essbaren Give-Aways von
Fluggesellschaften, wie ich überrascht bei meinem Feldversuch
feststellen musste. Egal ob innerdeutsche Billigflieger oder
transatlantische Megajets, geschmacklich unterscheiden sich die Bonger
kaum, nur bei der Verpackung wird zumindest farblich auf Individualität
geachtet - wahrscheinlich steht irgendwo im tiefsten Shanghai eine
Riesen-Bonbon-Fabrik, die den gesamten Weltmarkt (und bald das
komplette Universum) beliefert. Die würde ich mir natürlich gerne mal
ansehen, aber was noch viel wichtiger ist: Man braucht eigentlich weder
Fotoalben, noch Tagebücher, noch Web-Blogs oder sonstige
Gedächtnisstützen: manchmal reicht schon eine kleine, runde Holzdose
voll von potentiellem Hüftspeck für einen amtlichen Flashback ganz
alltäglicher Kleinigkeiten. Davon wird die Welt zwar auch nicht besser,
aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte...
Sweet Dreams! Pyranja
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