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Literatur

Es war doch nicht alles schlecht... Interview mit Holger Böwing

Es war doch nicht alles schlecht... Interview mit Holger Böwing

Aug 09

Holger Böwing studiert von 1980 bis 1984 in Rostock Sonderschulpädagogik. Motiviert und voller Ideale wird er nach seinem Abschluss Lehrer in einem Spezialheim für schwer erziehbare Jugendliche in der Nähe von Frankfurt/Oder. Wie sich dort der alltägliche Umgang mit den Kindern darstellt, erschreckt Böwing zutiefst. Als Konsequenz schreibt er das Buch „Jakob Leising“. Der Roman handelt vom Schicksal eines Kindes, das als verhaltensgestört eingestuft und in einem Kinderspezialheim untergebracht wird. Doch der Junge ist alles andere als gestört. Er nimmt seine Umwelt, die Pädagogen und Erzieher sehr genau und äußerst kritisch wahr und erteilt ihren „Erziehungsmethoden“ ein vernichtendes Urteil. „Jakob Leising“ als kritischer Roman über die sozialistische Volksbildung wurde in der DDR nie verlegt. Erst heute, 25 Jahre später, erfährt das Buch seine verdiente Veröffentlichung.



0381: Was haben Sie in dem Heim, in dem sie arbeiteten, erlebt?

Böwing: Das Heim war ein Spezialkinderheim mit einer eigenen Schule. Es wohnten dort lauter halbwüchsige Jungen, die lernbehindert und schwer erziehbar waren, so wie man das damals nannte. Ich hatte gerade die Uni abgeschlossen und kam aus Rostock mit vielen positiven Grundsätzen - dass man den Schülern mit sonniger Konsequenz gegenüber treten und ihnen ein schonendes Regime bieten sollte. Ich hatte ethisch hohe Ansprüche. Was dort passierte, war jedoch das Gegenteil.


0381: Wie sah das konkret aus?

Böwing: Die meisten Mitarbeiter dort waren schon viele Jahre dabei. Ihr erzieherischer Ansatz war, dass sich die Jugendlichen nicht in einem Förderheim befanden, sondern dort zur Strafe „saßen“. Und diese Strafe durfte sich nicht angenehm anfühlen, sondern sie sollte wehtun. Das hat mich sehr erschreckt.


0381: Warum waren die Methoden der Erzieher so hart, wenn in der Uni ein ganz anders pädagogisches Bild vermittelt wurde?

Böwing: Die Erzieher und Pädagogen waren in diesem Heim einer permanenten Überforderung ausgesetzt. Das ist ganz natürlich, wenn in einer Klasse oder Wohngruppe ausschließlich Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten zu finden sind. Das sind die berühmten zwei Seiten der Medaille. Nicht nur die Kinder wurden durch die Erwachsenen überfordert, sondern auch umgekehrt.


0381: Dann war dieses Heim dort lediglich eine Verwahr- und Strafanstalt, anstatt eine Fördereinrichtung?

Böwing: So ungefähr war mein subjektives Erleben. Den Kindern wurde lediglich beigebracht, sich in dem engen Rahmen des Heimes angemessen zu verhalten. Aber es wurde z.B. überhaupt nicht mit dem Elternhaus gearbeitet. Diese Kinder wurden dazu erzogen, innerhalb des Heimes zurecht zu kommen, aber auf die Welt draußen wurden sie nicht vorbereitet.


0381: Wann entstand die Idee zu dem Buch?

Böwing: Ich habe gemerkt, wie ich mit der Zeit durch die Schwere der Arbeit immer mehr in die Nähe der Leute rückte, deren Methoden ich ablehnte. Ich musste mit Schrecken beobachten, dass mein Verhältnis zu den Jugendlichen schwieriger wurde; ich wurde plötzlich auch sehr streng und schroff. Das hätte ich nie für möglich gehalten. All das hat dazu geführt, dass ich eigentlich für meine eigene Psychohygiene anfing, dieses Buch zu schreiben.


0381: Was passierte, als sie den Roman veröffentlichen wollten?

Böwing: Es gab einen Versuch bei „Hinstorff“ in Rostock. Die lehnten das Buch jedoch ab. Man sagte mir, es wäre literarisch nicht gut genug. Jahre später hat sich dann heraus gestellt, dass der wahre Grund für die Ablehnung die Angst war, ein Volksbildungsthema aufzugreifen. Die Volksbildungsministerin war ja schließlich die Frau von Erich Honecker. Das darf man nicht vergessen. Es gab dann aber noch den Buchverlag „Der Morgen“. Die wollten das Buch veröffentlichen. Aber dann kam die Wende dazwischen und der Verlag wurde von einer westdeutschen Verlagsgruppe geschluckt. Die lehnte den Roman ab. Es gäbe gravierende Einwände seitens der Chefredaktion, war die lakonische Mitteilung aus dem Verlagshaus. Weiter wurde das nicht begründet.

0381: Wie ging es dann weiter mit „Jakob Leising“?

Böwing: Ich bin ins Verlagshaus, habe meine Druckfahnen abgeholt und war stark frustriert. Viele Jahre habe ich mich nicht mehr um das Buch gekümmert. Irgendwann war ich aber mal zu einer Lesung eingeladen und habe mich an den „Jakob Leising“ erinnert. Ich las daraus und habe gemerkt: Mein lieber Mann, da steckt Brisanz hinter.

0381: Woraus ergibt sich diese Brisanz?

Böwing: Sie resultiert aus zwei Dingen. Erstens: Wir haben im Umgang mit schwer erziehbaren Kindern, heute sagt man Kinder mit herausforderndem Verhalten, nicht viel hinzu gelernt, was das Repertoire der pädagogischen Maßnahmen angeht. Das was heute gelehrt wird, unterscheidet sich nicht wesentlich von den Dingen, die in den Spezialkinderheimen praktiziert wurden. Zweitens: Die Anzahl der Kinder mit herausforderndem Verhalten hat sich in den letzten Jahren rapide erhöht. Die Kinder aus dem Heim, in dem ich arbeitete, kamen aus der gesamten DDR. Es war das einzige Spezialheim für schwer erziehbare Hilfsschüler im ganzen Land. Ich bin ja nun auch nach der Wende in dieser Branche geblieben und meine Erfahrung ist, dass mittlerweile ein einziger Landkreis ausreicht, egal in welchem Bundesland, um so eine Schule zu füllen. Das hätte ich mir nie träumen lassen.


Birke Scheffler

8 Kommentare zu „Es war doch nicht alles schlecht... Interview mit Holger Böwing”


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