VOM LEHRLING ZUM VORSTAND DER RSAG
"Die Wartezeiten an den Haltestellen machen den Unterschied zwischen Provinz und Nicht-Provinz." Diese Worte eines klugen Mannes beschreiben treffend die Situation des Öffentlichen Personennahverkehrs abseits der Metropolen.
Seit nunmehr 126 Jahren gibt es in Rostock innerstädtischen Schienenverkehr. Im August des Jahres 1881 genehmigte der Magistrat der Hansestadt die Verlegung von Gleisen für eine Pferdebahn, die schon zwei Monate später durch die neugegründete "Mecklenburgische Straßen-Eisenbahn Actien-Gesellschaft" in Betrieb genommen werden konnte. Neun Kutscher, zehn Wagen und 27 Pferde waren auf zunächst drei Linien unterwegs. Im Frühjahr 1904 fährt die erste "Elektrische" durch Rostock und ersetzt sukzessive die Pferdebahnen. In dieser Zeit erfolgt auch die Umbenennung in den heutigen Namen "Rostocker Straßenbahn AG". 22 Jahre später verkehrt die erste Omnibuslinie zwischen Rostock und Warnemünde.
Die Bombenangriffe im 2. Weltkrieg treffen die Rostocker Innenstadt besonders hart. Neben dem Verlust zahlreicher Menschenleben ist dabei die Zerstörung vieler Fabriken, Wohn- und Geschäftshäuser zu beklagen. Hiervon ist auch die RSAG betroffen, deren Gleisnetz, Verwaltungsgebäude und zahlreiche Wagen den Bomben zum Opfer fallen. Nach Ende der Naziherrschaft ist der Verkehr in Rostock lahm gelegt. Doch schon im August 1945 nimmt die Straßenbahn in Rostock auf zwei Linien ihren Betrieb auf - nach und nach werden die Gleise wieder instand gesetzt und es kehrt wieder Normalität ein.
Im Jahr 1949 wird die RSAG mit anderen städtischen Unternehmen unter dem Begriff "Kommunalwirtschaftliche Unternehmen" zusammengefasst, jedoch schon wenig später wieder ausgegliedert und in VEB Nahverkehr Rostock umbenannt. Unter diesem Namen erschließt das Unternehmen die Südstadt in den 60er und den Nordwesten in den 70er Jahren.
1982 wird das Unternehmen dem VEB Ostseetrans angeschlossen. In den 80ern erfolgt eine Grundsanierung des Straßenbahnnetzes mit gleichzeitiger Anbindung der neuen Stadtteile Dierkow und Toitenwinkel.
Am 5. Juni 1990 erfolgt die Umwandlung des Unternehmens in eine städtische Aktiengesellschaft unter seinem alten Namen "RSAG". In den Jahren nach der Wende stehen grundlegende Veränderungen an: die Verbindungen zwischen den einzelnen Stadtteilen werden stetig verbessert, der Fuhrpark durch Einführung der Niederflurtechnik bei Bussen und Bahnen auf den neuesten Stand gebracht.
Seit 2000 können die Rostocker mit der Straßenbahn nach Evershagen, schon ein Jahr später bis Lütten Klein fahren. Die Südstadt ist seit 2003 mit der Straßenbahn zu erreichen. Im selben Jahr konnte der Bauabschnitt für die Netzerweiterung nach Lichtenhagen übergeben werden. Im Oktober 2006 wurde mit die Verbindung Schröderplatz-Vögenteichplatz eingeweiht. Die Rostocker Straßenbahn AG hat also in den letzten 126 Jahren entscheidend an der Veränderung der Hansestadt teilgehabt.
Geführt wird das Unternehmen von einem Doppelvorstand: Jochen Bruhn ist verantwortlich für den kaufmännischen, Wilfried Eisenberg für den technischen Bereich und das Personal. Der 39jährige ist Nachfolger Graf Vitzthums, der jahrelang das Gesicht der RSAG war, und seit Anfang dieses Jahres im Amt. Der Warnemünder ist seit mehr als 20 Jahren im Unternehmen. "Mitte der 80er Jahre machte ich zunächst eine Lehre als Elektromonteur, bevor ich Elektronikfacharbeiter wurde. So habe ich zwei Berufe gelernt," erklärt Wilfried Eisenberg, der nach Beendigung seiner Ausbildung an grundlegenden Veränderungen innerhalb des Unternehmens teilnehmen durfte. Die Einführung der Tatrabahnen prägte die Zeit kurz vor der Wende, die von Bussen und Bahnen die in den Jahren danach. Nicht nur technische Neuerungen prägten jene Jahre. Die politische Wende schuf die Vorrausetzungen, einen ökonomisch arbeitenden Verkehrsbetrieb aufzubauen.
1996 begann Eisenberg ein Fernstudium in Elektrotechnik und machte danach ein Aufbaustudium Betriebsleitung. Sieben Jahre fleißiges Studieren mit Erfolg: 1998 wurde er Leiter des operativen Geschäfts der RSAG.
Seit Januar ist Wilfried Eisenberg verantwortlich für die Bereiche Technik und Personal. In die kurze Zeit seines Wirkens fielen viele Entscheidungen in seinem Aufgabenbereich. So gelang es, einen Tarifvertrag mit den Mitarbeitern auszuhandeln, mit dem die RSAG einen wichtigen Beitrag zur Entspannung der Haushaltssituation der Hansestadt leistet, ohne dass die Bürger Leistungseinbußen befürchten müssen. "Dieser Abschluss ist ein Riesenerfolg für das gesamte Unternehmen".
Auch die Einführung der Linie 27, die zwischen Hauptbahnhof und Reutershagen pendelt, war ein großer Erfolg, zeichnet sie sich doch durch eine sehr gute Auslastung aus.
Die Aufgabenliste des überzeugten ÖPNV-Mannes ("So oft wie möglich verzichte ich auf das Auto und benutze das umweltfreundlichste Verkehrsmittel, die Straßenbahn, die am Ort der Leistungserbringung emissionsfrei ist") ist lang. So steht die Verjüngung des Fahrzeugbestands der RSAG an. Auch hier spielt das Thema Umwelt eine starke Rolle. So sind die neuen Busse mit BLUETEC-Technologie ausgestattet, einem neuen umweltfreundlichen Standard von Mercedes-Benz. Geräuschlos, doch nicht nebenbei, erfolgt derzeit die Sanierung des Oberleitungssystems. Und neue Großprojekte stehen ins Haus: so wird das Unternehmen einen ÖPNV-Verknüpfungspunkt an der Warnemünder Werft errichten. Bei neuen Projekten wird die RSAG wie schon in der Vergangenheit stets ein offenes Ohr für Vorschläge der Bürger haben.
Bei technischen Abläufen ist er in letzter Instanz entscheidend, die Auswertung des Tagesgeschäfts, wie z.B. bei den Unfällen der vergangenen Monate, aber auch die Belange der 611 Mitarbeiter und 40 Azubis bestimmen den Arbeitstag des Vorstands. Dazu kommen ehrenamtliche Pflichten. Viel Verantwortung also. Hier nimmt Eisenberg klar Stellung: "Verantwortung wird am Erfolg gemessen. Je tiefer man sich in eine Aufgabe arbeitet, desto interessanter wird diese. Und je mehr Verantwortung man trägt, desto größer werden die Lust und die Herausforderung, dieser gerecht zu werden."
Trotz eines 12- bis 14-Stunden-Tages versucht Wilfried Eisenberg, seine Familie nicht zu kurz kommen zu lassen. Dies funktioniert nur durch Organisation und die Einhaltung fester Zeiten für seine fünf Kinder im Alter von 8 bis 18. Zeit für diese und "meine Klassefrau" nimmt er sich an den Wochenenden und im Urlaub. Dieses Jahr waren die Eisenbergs in den USA, doch auch Skandinavien, im Winter Tschechien und alle zwei Jahre ein Ziel im Inland bestimmten die Ferien der Familie. Das System funktioniert, "...denn ich bin zu Hause immer noch gern gesehen", erklärt Eisenberg augenzwinkernd.
Bei aller Zukunftsplanung, wie z.B. dem Stadtbahn-Projekt verliert er das Kerngeschäft nie aus den Augen und lässt es sich nicht nehmen, ab und zu mal einen Bus oder eine Straßenbahn zu steuern. "Dies öffnet den Blick in alle Richtungen."
Von CHRISTIAN RUTSATZ